Besuch der Schweizer Expertin für Barrierefreiheit in der Tschechischen Republik

Projekt: "Austausch von Erfahrungen und guter Praxis im Bereich des integrierten Zugangs zu Betreuung von Körperbehinderten für Erhöhung ihrer Lebensqualität"

Vom 28. Mai bis 1. Juni 2012 besuchte die Schweizer Expertin für Barrierefreihet, Frau Silvia Heinzmann, in Rahmen dem vom Partnerschaftsfond finanzierten Schweizerisch-tschechischen Projekt  die Tschechische Republik. Frau Heinzmann repräsentierte die Organisation Handicap Architecture Urbanisme - http://www.hau-ge.ch/, die sich für behindertengerechtes Bauen einsetzt. Das Ziel ihrer Reise war, neue Einsichten im Bereich Barrierefreiheit von Gebäuden, Infrastruktur  und öffentlichen Anlagen in Tschechien zu gewinnen. Das Programm des Besuchs bestand vor allem aus architektonischen Exkursionen und Konsultationen mit den Tschechischen Experten zum Thema Barrierefreiheit und Architektur.

 

Den ersten Tag war ein Programm in der Hauptstadt Prag vorbereitet. Zuerst wurde das Heim des hl. Karl Borromäus in Prag – Repy besucht. Das Heim ist eine kirchliche Anlage, wo sich vier unterschiedliche Welten begegnen und zwar die von den Schwestern der Kongregation des. hl. Karl Borromäus, die von Senioren und Kranken, die von verurteilten Frauen und schließlich auch die vom Zivilpersonal.  Das Heim bietet hilfsbedürftigen, langzeitkranken Senioren und Behinderten komplexe Betreuung. In dem Nebengebäude befindet sich ein Tageszentrum, das einen Tagesaufenthalt nicht nur Heimbewohnern, sondern auch jenen Senioren, die aus ihren Familien kommen und abends wieder heimgehen, bietet.  Zu dem Heim gehört auch ein barrierefreier Garten. Der ganze Komplex stellt ein gutes Beispiel eines barrierefreien historischen Objektes dar. Während des Heimbesuchs hatte ein Rollstuhlfahrer, Vertreter der Bürgervereinigung Leben ohne Barrieren, keine Probleme mit Zugänglichkeit. Die Innengänge des Heimes sind farblich unterschieden um den Senioren die Orientierung leichter zu machen. Alle Räume sind deutlich gekennzeichnet und es gibt auch einen geräumigen Aufzug und berrierefreie Sozialeinrichtungen. Es gab nur einen kleinen Mangel, der die Holme betrifft, die in einigen Gängen zu hoch befestigt und nicht lückenlos  aneinander angeschlossen wurden. An der Besichtigung nahm auch der Direktor des Heimes, Herr Staněk, teil. Herr Staněk erklärte Frau Heinzmann das Finanzierungsystem  der Stiftung des  hl. Karl Borromäus.
 
Die nächste Station in Prag war Prager Hochburg – Wyschehrad, ein national Denkmal. Die Gärten, Ringmauern und die umliegenden Parkanlagen sind zu  90% für Rollstuhlfahrer zugänglich. Programmteilnehmer sahen sich nicht nur dieses architektonische Denkmal, sondern auch andere aus architektonischer Sicht sehr interessante Objekte an, die von den Wyshehradsmauern sichtbar sind. Zum Teil des Programms wurde auch Begegnung mit der Vertreterin der europäischen Entwicklungsagentur, die der Bürgervereinigung  Leben ohne Barrieren  half, das Schweizerische –tschechische Projekt vorzubereiten.
 
Am Anfang des zweiten Tages wurden die Workshopsteilnehmer  mit dem Tagesprogramm bekannt gemacht. Das  Hauptthema war das von der Bürgervereinigung Leben ohne Barrieren in Zusammenarbeit mit der Stadt Nová Paka realisierte Projekt „Nová Paka – die Stadt ohne Barrieren“, in dessen Rahmen seit 2005 viele barrierefreie Lösungen in der Stadt und Umgebung realisiert wurden. Frau Heinzmann teilte mit Workshopsteilnehmern  nicht nur ihre Bemerkungen zu der gegenwärtigen Barrierefreiheit der Stadt Nová Paka sondern auch ihre Verbesserungsideen und Vorschläge. Es wurde z.B. festgestellt, dass einige Fußgängerübergänge und Gehwegemarkierungen den tschechischen Normen entsprechen, den schweizerischen jedoch nicht.
 
In Nová Paka sind zurzeit etwa 30% aller Geschäfte und öffentlicher Gebäude für Rollstuhlfahrer zugänglich. Einige von ihnen wurden von Frau Heinzmann besichtigt. Die Workshopsteilnehmer besuchten auch das Altersheim, das erst vor zwei Jahren eröffnet wurde. Es gibt Einbettzimmer und Zweibettzimmer für 65 Klienten. Zu dem Heim gehören auch eine barrierefreie Terrasse und ein barrierefreier Garten mit einem Gartenhäuschen.  Die  einzelnen Stockwerke im Hauptgebäude sind farblich unterschieden und alle Zimmer sind deutlich gekennzeichnet.  Fast alle Räume außer Zimmerbalkons und einer Erdgeschosstoilette  sind für Rollstuhlfahrer gerecht.  Neben dem Altersheim befindet sich ein Pflegediensthaus, das jedoch kein gutes Beispiel der Behindertengerechtigkeit darstellt.  Im dem Haus gibt es nur eine barrierefreie Wohnung und alle Balkons und Terrassen sind für Rollstuhlfahrer unzugänglich.
 
Das Nachmittagsprogramm bestand aus Besichtigung des neugebauten Zentrums ohne Barrieren und des Paulaner Barockklosters, die sich im Areal der Bürgervereinigung Leben ohne Barrieren befinden. Das Zentrum ist barrierefrei und dient den Behinderten und Senioren. Frau Heinzmann sah sich die Betreuten Werkstätten  im Zentrum an. Danach wurde  sie vom Architekten Herrn Doubek begleitet, der in einem architektonischen Studio arbeitet. Das Studio arbeitet am Entwurf der Klostersgebäuderevitalisierung.  Herr Doubek führte Frau Heinzmann durch  alle Räumlichkeiten des Zentrums und des Barockklosters. Anschließend gab es eine Diskussionen über die vorbereitete Revitalisierung des Klostergebäudes. Die Workshopsteilnehmer sahen sich architektonische Entwürfe, Fotos und Videoprojektion an und  teilten ihre Bemerkungen, Kenntnisse und Ideen. Frau Heinzmann kam mit einigen nützlichen Vorschlägen und Bemerkungen, die bei dem Klosterumbau verwendet werde können, z.B., dass massive Holztüren in den meisten  öffentlichen historischen Gebäuden in der Schweiz mit Antrieb für automatisches Öffnen ausgestattet werden. Auch dieses Beispiel von guter Praxis wird in dem Klostergebäudeumbauhaushalt eingeschlossen.  
 
Am dritten Tag wurde die Bezirksstadt Königgrätz besucht, wo es viele Beispiele guter Praxis sowie auch schlechter Lösungen der Barrierefreiheit gibt. Sehr interessant war die Besichtigung des Bezirksverwaltungszentrums  in Begleitung von Architekten Frau und Herrn Dařbuján, die sich am Entwurf des Zentrumumbauprojekts beteiligten. Alle Programmteilnehmer, d.h.: Frau Heinzmann, die Vertreter der Bürgervereinigung Leben ohne Barrieren, die Abgeordnete des Staatsparlaments Frau Lesenská, Frau und Herr Dařbuján und die Bezirksverwaltungsvertreter, sahen sich die Innenräume und den Innenhof  des Zentrums an. Alle schätzten das architektonische an der Fassade, Türen, Möbeln, Beleuchtung und anderen Ausstattungsstücken zu findende Leitmotiv des ganzen Areals. Leider findet man auch in diesem neulich eröffneten Zentrum Räume, die für Rollstuhlfahrer unzugänglich sind. Bei der Besichtigung wurden folgende Mängel an  Barrierefreiheit entdeckt: Die Sozialeinrichtung neben dem Arbeitszimmer des Bezirkshauptmanns ist  nicht Rollstuhlfahrergerecht. Die Tragkraft des Treppenschrägaufzugs, der zu dem Verhandlungssaal führt, ist max. 220 kg und deshalb für Behinderte auf elektrischem Rollstuhl unbenutzbar. Und zuletzt: Im Verhandlungssaal sind nur die zwei letzten Sitzreihen für Rollstuhlfahrer zugänglich. Das heißt, dass kein Rollstuhlfahrer sich als Bezirkshauptmann oder Bezirksratsmitglied agieren kann.   Alle erwähnten Mängel könnten  durch kleine Baukorrekturen beseitigt werden. Auch das Parken in Souterrain ist für einen von Behinderten meistbenutzten Van problematisch. Die Einfahrtshöhe ist für alle Vans, Kastenwagen und ähnliche Fahrzeuge zu niedrig.  Laut Baugesetzt ist jedoch alles in Ordnung. Deshalb wird sich die Bürgervereinigung mit  schriftlicher Anforderung von entsprechender  Novellierung des Baugesetzes an die Parlamentsabgeordnete Frau Lesenká wenden.
 
Zu einem sehr angenehmen Erlebnis wurde  Besuch von einem Café, das sich im Regionszentrum befindet und von Behinderten  betrieben wird. In unmittelbarer Nähe des Regionszentrums, unter den Kanonikerhäusern, befinden sich neuerrichtete Terrassen. Es geht um  einen vom europäischen Fond finanzierten Umbau, dessen Besichtigung zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde. Unbegreiflich ist aber die Tatsache, dass die Terrassen für Rollstuhlfahrer völlig unzugänglich sind, wobei die notwendigen Baukorrekturen lediglich mit kleinen Kosten verbunden wären. Jetzt gibt es drei überflüssige hinunter und hinaufgehende Stufen. Ein anderer Mangel wurde beim Zugang  zu den Terrassen vom Parkplatz her entdeckt. Zwischen dem Terrasseneingang und dem Parkplatz führt eine frequentierte Hauptstraße, aber ein Fußgängerübergang  fehlt. Auch diese Feststellung wird eine Anforderung zu Folge haben, die an das Stadtverkehrsreferat gesendet wird.
 
Das Nachmittagsprogramm bestand aus der Besichtigung der interessantesten Bauobjekte und der öffentlichen Infrastruktur von Königgrätz, die mit einem Vortrag über die Stadtgeschichte verbunden wurde. Die Stadtvertreterin, Frau Šilhánková, machte zusammen mit  Programmteilnehmern einen Spaziergang durch die Stadt, wobei man wiederum  Beispiele guter Praxis in Barrierefreiheit zu sehen hatte. In der Nähe des Alten Marktplatzes befindet sich „ Klicpera Theater“ mit einem sehr schön gelösten barrierefreien Eingang.  Von dort aus kann man durch den Park „Žižkovy sady“ spazieren. Der obere Teil des Parks  ist zwar zugänglich aber in der Mitte stößt ein Rollstuhlfahrer auf Treppe und muss umkehren. 
 
Währen des Tagesworkshops hatten alle Teilnehmer eine Möglichkeit  die Barrierefreiheit von vielen Fußgängerübergängen, Gehwegen und öffentlichen Anlagen zu beurteilen und einige von ihnen auch zu überprüfen.  Wie die aufgenommenen Fotos beweisen, sind in einigen Fällen die tschechischen Normen erfüllt, aber in anderen sind die Baukorrekturen entweder unvollendet oder irreführend und zwar auch für  gesunde Menschen. Da die tschechischen und schweizerischen Baunormen bezüglich der Barrierefreiheit nicht identisch sind gab es zwischen dem tschechischen und dem schweizerischen Experten nicht immer Übereinstimmung. Am Ende der Besichtigung von Königgrätz besuchten die Programmteilnehmer den Park „Jírovy sady“, das zu 90% für elektronischen Rollstuhlnutzenden Behinderten zugänglich ist. In der Nähe des Parks befindet sich ein Wasserkraftwerk von besonderer architektonischer Bedeutung.
 
Der letzte Workshop wurde der Barrierefreiheit der historischen Bauwerke von Königgrätzregion gewidmet. Erste Station machten die Programmteilnehmer auf der Talsperre in Bílá Třemešná. Anschließend wurde das Hospital Kuks besucht, ein einzigartiger Barockkomplex, der die entzückenden Allegorien der Tugenden und Laster von dem Bildhauer Matthias Bernard Braun  und auch eine einmalige Institution in ihrem Bereich in Tschechien: das Tschechische Pharmazeutische Museum enthält. Zurzeit ist der ganze Komplex für Rollstuhlfahrer fast unzugänglich. Das sollte sich aber bald ändern und zwar durch Realisierung von dem vom europäischen Fond finanzierten Projekt Granatapfel, in dessen Rahmen der ganze Komplex umgebaut wird. Die Programmteilnehmer wollen das Hospital Kuks wieder besuchen um  Barrierefreiheit des Umbaus zu überprüfen.
 
Schließlich wurde das im Jahre 2007 weitgehend sanierte Franziskaner Kloster in Hostinné (deutsch: Arnau) besichtigt. Im Objekt befinden sich jetzt moderne Bibliothek und Expositionen des Stadtmuseums. Auch hier wurden Mängel an Berrierefreiheit festgestellt. Zum Beispiel:   Türschwellen, rollstuhlfahrerungerechter Notausgang, für Rollstuhlfahrer unzugänglicher Paradieshof. Eine positive Lösung der Barrierefreiheit stellt der Treppenschrägaufzug mit Tragkraft von 250 kg dar, der auch für Behinderte auf elektrischem Rollstuhl zu benutzen ist. Der umliegende Park ist  gepflegt, allerdings ist der Schotter auf dem Weg für Rollstuhl- oder auch Kinderwagenräder ungeeignet. Behandlung durch einen speziellen, zusammen mit dem Schotter eine kompakte und feste Oberfläche bildenden Klebstoff wäre ein Beispiel guter Praxis in diesem Fall. 
 
Für Frau Heinzmann wurde ebenso ein kulturelles Programm vorgesehen - eine Theatervorstellung des Ensembles Cirk La Putyka im neugebauten Kulturzentrum UFFO in der Stadt Trutnov. 
 
Am letzten Projekttag wurden gewonnene Kenntnisse und Erfahrungen konsultiert,    Fotodokumentation wurde präsentiert und Programmteilnehmer diskutierten über  Unterschiede bezüglich der Barrierefreiheit zwischen der Schweiz und der Tschechischen Republik.
 
In Nová Paka am 2.6.2012
Jitka Fuciková